Es gibt Dinge, die wir vermeiden, ohne lange darüber nachzudenken – und aus gutem Grund.
Wir fassen nicht in kochendes Wasser. Wir laufen nicht mit verbundenen Augen über die stark befahrene Straße. Wir vermeiden es, die Herdplatte anzufassen, während sie glüht.

Vermeidung schützt. Sie bewahrt uns vor Schmerz, Schaden, Überforderung.
Sie ist ein evolutionäres Frühwarnsystem: unaufdringlich, aber effektiv.

Doch was passiert, wenn wir beginnen, auch das zu vermeiden, was uns eigentlich gut täte, was uns stärken würde?

Die Mechanismen, die ursprünglich vor realer Gefahr schützen sollten, weiten sich oft unbemerkt aus – auf Lebensbereiche, die keine Bedrohung im klassischen Sinne darstellen, aber sich unangenehm anfühlen. Statt körperlicher Verletzung geht es nun um emotionale Berührung, um Unsicherheit, um das Unbekannte.

Manche Menschen benutzen Vermeidung dann als Strategie, um innerer Konfrontation aus dem Weg zu gehen.
Sie sprechen auf der Straße niemanden an, obwohl sie sich nach Verbindung sehnen.
Sie umgehen Gespräche mit dem Vorgesetzten, obwohl Unzufriedenheit oder Überforderung längst spürbar ist.
Sie schweigen in Beziehungen, weil ein klärendes Gespräch alte Verletzungen aufreißen könnte – und hoffen, dass sich das Problem von selbst erledigt.

Auch in größeren Themenfeldern zeigt sich dieses Muster.
Bestimmte Menschen vermeiden es, sich mit Kriegen zu beschäftigen – nicht, weil sie gleichgültig wären, sondern weil sie sich ohnmächtig fühlen.
Andere lenken sich ab, wenn es um Themen wie gesellschaftliche Manipulation oder Fremdbestimmung geht – nicht aus Desinteresse, sondern weil die Auseinandersetzung mit der eigenen Passivität wehtun könnte.

Vermeidung wird so zu einem Schutz vor Erkenntnissen, die unbequem sind – aber oft befreiend wären.
Sie bewahrt vor emotionaler Erschütterung, aber auch vor Wachstum.
Vor dem Stolpern – aber eben auch vor dem Gehen.

In solchen Momenten steht Vermeidung wie ein Wächter an der Tür zur inneren Freiheit.
Gut gemeint. Aber oft fehl am Platz.

Der paradoxe Effekt

Vermeidung wirkt kurzfristig entlastend.
Das unangenehme Gespräch bleibt aus. Das kritische Thema verschwindet vom Schirm. Der innere Druck lässt nach – für einen Moment.

Doch genau hier liegt das Problem:
Die Erleichterung ist trügerisch. Denn das, was vermieden wurde, bleibt im Hintergrund bestehen – und wird mit jeder Vermeidung größer.

Der eigentliche Antrieb dahinter ist fast immer Angst.

Angst davor, zu scheitern.
Angst, abgelehnt zu werden.
Angst vor dem Gefühl der Überforderung, der Bloßstellung, der inneren Unsicherheit.

Vermeidung wird damit zur kurzfristigen Angstregulation.
Sie verschiebt das Problem – ohne es zu lösen.
Was zunächst nur ein flüchtiger Gedanke war, wächst sich mit jeder Umgehung zu einer inneren Blockade aus.
Und aus dem Versuch, sich zu schützen, entsteht allmählich das Gegenteil: ein Gefühl der Machtlosigkeit.

Wer der Angst immer wieder ausweicht, überlässt ihr die Führung.

Wer ein unangenehmes Gespräch immer wieder aufschiebt, erlebt nicht weniger Anspannung, sondern über die Zeit mehr. Die Vorstellung vom Gespräch wird mit jedem Tag bedrohlicher.
Was zunächst nur unangenehm war, erscheint irgendwann unüberwindbar.

Gleiches gilt für Themen, die das eigene Selbstbild und die Persönlichkeit betreffen.
Wer sich scheut, die eigene Fremdbestimmtheit zu hinterfragen, schützt sich vor dem Schmerz der Erkenntnis – aber auch vor der Chance, sich zu verändern.
Je länger diese Vermeidung anhält, desto fester verankert sich das Gefühl: „Das halte ich nicht aus.“

Und damit wächst nicht die Stärke – sondern die Angst.

„Wenn ich aus Angst etwas vermeide, stärke ich diese

selbst dann, wenn die Situation alles andere als bedrohlich ist.“

Vermeidung entlastet kurzfristig – aber sie verhindert, dass wir innerlich widerstandsfähiger werden.

Der Schutzmechanismus wird so zum Gefängnis. Nicht aus bösem Willen, sondern aus einem inneren Missverständnis:
Dass unangenehme Gefühle vermieden werden müssten, statt sie durchschreiten zu dürfen.

Individuelle und gesellschaftliche Folgen – und die Einladung, es anders zu machen

Vermeidung hinterlässt Spuren. Nicht nur im Einzelnen, sondern im Miteinander.
Wer sich selbst immer wieder aus dem Weg geht, verliert das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, mit Herausforderungen umzugehen. Die Folge ist oft ein Gefühl von innerer Enge, von Unsicherheit, von Getriebenheit – auch wenn das nach außen ganz anders aussieht.

Auf gesellschaftlicher Ebene zeigt sich das Gleiche in größerem Maßstab:
Eine Kultur, die Diskussionen scheut, die Tabus pflegt, die Kritik reflexhaft abwehrt, statt sich ihr zu stellen.
Statt Auseinandersetzung gibt es Ablenkung.
Statt Erkenntnis: Ersatzhandlungen.

Und vielleicht ist genau das der Punkt, an dem sich etwas verändern darf. Nicht durch Druck, nicht durch Appelle – sondern durch einen stillen Entschluss:

Hinsehen, wo man sonst wegsieht.
Fragen stellen, wo man sonst schweigt.
Spüren, wo man sonst abstumpft.

Denn dort, wo Vermeidung endet, beginnt nicht die Gefahr – sondern die Möglichkeit von innerem und äußerem Wachstum.

Genau das erlebe ich immer wieder in meiner Arbeit: Wenn Menschen sich trauen, ihren Ängsten nicht länger auszuweichen, sondern sich ihnen stellen, verwandelt sich das Zögern in Stärke. Das Selbstbewusstsein wächst – spürbar im Inneren, sichtbar im Auftreten.

In meinem Buch „Selbstbestimmtheit – Ein Credo für Frieden und Freiheit“ widme ich diesem Thema ein eigenes Kapitel:
„Angstvermeidung – Wenn Schutz zur Begrenzung wird“.
Ein Text für alle, die spüren, dass inneres Wachstum dort beginnt, wo Ausflüchte enden.

Vielleicht würde ein Leser rückblickend etwas sagen wie:

„Am Anfang war ich mir unsicher, ob ich das Buch überhaupt lesen soll. Irgendetwas in mir hat gezögert. Es brauchte fast ein bisschen Überwindung. Als ich dann angefangen hatte, musste ich immer wieder pausieren – nicht, weil es schwer zu verstehen war, sondern weil es in mir etwas in Bewegung gesetzt hat. Und dann kam der Abschnitt zur Angstvermeidung – und plötzlich wurde mir klar, warum ich gezögert hatte. Das war der Moment, in dem sich innerlich etwas gelöst hat. Danach habe ich den Rest ohne Unterbrechung gelesen.“

Ob es diese Rückmeldung so schon gegeben hat? Vielleicht, vielleicht auch nicht.
Aber genau dieses innere Zögern, dieses stille Widerstreben, erlebe ich immer wieder – in Gesprächen, im Coaching, bei Menschen, die ahnen:
„Wenn ich mich mit dem Thema Selbstbestimmtheit ehrlich befasse, verändert sich etwas – in mir und um mich herum.“

Und genau das ist der Grund, warum dieser Beitrag entstanden ist.

Wer beginnt, sich dem zuzuwenden, was lange gemieden wurde, entdeckt oft etwas Überraschendes: Die eigene Stärke war die ganze Zeit da – sie wartete nur darauf, eingeladen zu werden, um sich wieder entfalten zu können.

Das gilt besonders für die Selbstbestimmtheit, die in jedem von uns schlummert. Mein gratis Buch kann ein Anstoß sein, sie wieder ans Licht zu holen – und in den Alltag zu bringen.

Vermeidung kann zur Begrenzung werden.

Erklärung zum Beitragsbild:

Der kleine Baum im kleinen Blumentopf steht symbolisch für die einschränkende Entwicklung durch Vermeidung. Der gleiche Baum kann groß und stark werden, sobald man sich von der Einschränkung befreit.